Guten Tag

by Volker Weber

Wir haben seit gut einem halben Jahr einen neuen Nachbarn. Ein ausgesprochen netter, freundlicher Mensch, bei dem man sich freut, wenn man ihm begegnet. Weil er eine immer seltener anzutreffende Tugend hat: Eine ausgesuchte Höflichkeit. Er grüßt stets freundlich, bedankt sich auch für kleine Gefälligkeiten, wünscht Frohe Weihnachten usw. Unlängst habe ich ein ziemlich schwierig zu findendes PDF-Dokument an alle Nachbarn geschickt. Er hat sich bedankt.

Diese früher selbstverständliche Höflichkeit ist selten geworden. Und deshalb fällt sie mir auf. Andere Zeitgenossen gucken einfach unverständig zurück, wenn man sie grüßt. Irgendwie haben sie jedoch stets eine schnippische Bemerkung parat. Die Wörter bitte und danke sind völlig aus ihrem Sprachschatz verschwunden. Es reicht allenfalls zu einem "das wäre aber nicht nötig gewesen".

Ein bisschen Augenmaß ist dabei durchaus nötig. Wenn mir jemand in einem Chat zum Beispiel erst mal die Frage stellt, wie es mir denn geht, und ich dabei schon genau weiß, dass jetzt entweder irgendwas nicht mehr funktioniert oder eine Kaufberatung im Raume steht, dann frage ich schon mal zurück "was ist kaputt oder was willst du kaufen :-)" — einfach weil ich selten Lust habe, während eines Chats viel zu schreiben. Aber der Versuch zählt. Hier kann sich jemand erinnern, dass man mit seinem Anliegen nicht sofort ins Haus fällt.

Ganz besonders beobachte ich übrigens das Verhalten gegenüber vermeintlich Untergebenen. Ich weiß zum Beispiel, dass ein mir bekannter Vorstand jeden Kandidaten vor der Einstellung als letzten Eignungstest einmal zum Essen einlädt. Dabei will er nur eins wissen: Wie behandelt der Kandidat die Bedienung? Ist er ausgesprochen freundlich, dann taugt er. Ist er es nicht, dann wird man sich für einen anderen Bewerber entscheiden.

Mein Rat deshalb: Wer einfache Höflichkeitsregeln noch von seinen Eltern gelernt hat, der soll sie fleißig nutzen, völlig ungeachtet des Standes des Gegenübers. Es gibt viel zu gewinnen.

Comments

Guten Tag VOWE,
deine Beobachtungen gefallen mir sehr gut, da sie so schön den Zeitgeist und die These der "Gesellschaftsverrohung" von der Seite beleuchten. Moral und Anstand muss man sich nicht leisten, sondern (vor-)leben.
Viele Grüße aus Kichheim

Alexander Weihs, 2005-12-21

Danke Volker!

leider gehen diese Tugenden in unserer Gesellschaft mehr und mehr verloren.

Frohes Fest und einen guten Rutsch, Phil

Phil von Sassen, 2005-12-21

Hallo,

ja Anstand und Umgangsformen in Deutschland zu finden ist mittlerweile ein echtes Wunder.
Zum ersten mal aufgefallen ist mir dieses nach dem ich meine ersten zwei Wochen in Italien verbracht hatte, hier im gegensatz zu DE wird noch mit einander Kommuniziert, ich finde dabei immer das beispiel ganz passend: Treffen sich zwei Italiener irgendwo auf der Welt auf einem Flughafen 20 minuten spaeter kennen beide die Lebensgeschichte des anderen inklusiver aller probleme. Fuer einen kurzen moment sind es die besten Freunde und 10 minuten spaeter trennen sich beide und sehen sich nie wieder.. klingt irre ist aber tatsache (nun stelle man sich die selbe Situation mit 2 Deutschen vor...).
Das es auch anderster geht erlebe ich hier (rom) jeden Tag aufs neue wenn ich morgens das Hausverlasse werde ich immer freundlich von der netten Nonna (Oma) an der Ecke gegruesst inkl. Einladung auf einen Kaffeschwatz (Sie ist tief beleidigt wenn man mal keine 5 Minuten zeit hat ;) ). Eine sache die hier gang und gebe ist. Man geht in eine der vielen Bars und unterhaelt sich einfach mit den Leuten. Ist schon was anderes als wenn man das in Deutschland macht (wieviele Leute kennen nicht mal ihre direckten Wohnungsnachbarn..). Hatte einmal ein sehr seltsames erlebniss in einem Tchibo als ich den "Tischnachbarn" nach der Uhrzeit fragte.. Kategorie wenn Blicke toeten koennen...
Aber sicher haengt das auch mit der Mentalitaet der Gesellschaft zusammen in der man sich aufhaelt. In Deutschland ist es halt was das betrifft um einiges Kuehler ("Servicewueste" nur mal um ein Stichwort zu nennen). Aber sehr warscheinlich hat es auch mit dem allgemeinen Stellenwert der Familie insgesammt zu tuen. Ich weiss noch wie erstaunt ich war als ich hier in eine Disco ging (5 Tanzsaelle) und im Salsa Saal ein ca. an die 80 Jahre herranreichendes Ehepaar tanzen sah. Ein ding was mir in Deutschland noch nie untergekommen ist. In Deutschland hat man das gefuehl das Leben endet fuer die meisten sobald sie sich gesetzt haben und sich reproduziert haben, zumindest was die Sozialen Kontakte angeht...
Es koennte halt alles viel einfacher sein wenn die Menschen auf einander zugehen wuerden.. nur wer will das ?
Mein eindruck so gut wie niemand in Deutschland... traurig aber nach einem Jahr in Italien ist das mein Persoenliches resueme wenn ich beide Gesellschaften mit einenader vergleiche....

Schoene Gruesse und Buon Natale
Sascha

PS: Nicht boese sein ich weiss meine Rechtschreibung ist unter aller Sau ;) Sorry...
PPS: Nur zum bessern verstaendniss ich bin im besitz beider Staatsbuergerschaften und bis zu meinem 30 Lebensjahr in Deutschland aufgewachsen. Soll heissen habe nichts gegen Deutsche auch wenn der eindruck stellenweise im Text entstehen koennte.

Sascha De Caro, 2005-12-21

Auf dem Dorf wächst man (hier im Süden) glücklicherweise noch mit "Grüß Gott", "Guten Morgen/Tag/Abend" auf. Allerdings wird das auch immer weniger.

Meine Lebensgeschichte würde ich trotzdem nicht jedem einfach so verzählen, Sascha. Privatsphäre und Höflichkeit sind keine Gegensätze.
Mit Freunden kann man das Leben teilen - aber es geht nun wirklich nicht _jeden_ etwas an. (Was nicht bedeutet, dass man nicht neue Freunde gewinnen kann.)

Martin Hiegl, 2005-12-21

Volker, vielen herzlichen Dank für dieses Posting. Schön zu sehen, dass es Anderen auch so geht wie mir.
Was ich jetzt wieder zu Weihnachten feststelle: Man kann mit ein wenig Höflichkeit wirkliche Freude verbreiten. Das z.Zt. weitgehend durchaus gut ausgelastete Servicepersonal (Verkauf, Verkehr, Gastronomie, ...) reagiert oft mit Freude und Freundlichkeit auf entgegengebrachte Höflichkeit, die sie offensichtlich derzeit nicht allzuoft erleben. Dieses einfache Geben und Nehmen mindert dabei erheblich den Stress, mit dem dieser ganze Weihnachtsrummel so sehr verbunden ist.

Dirk Oppelt, 2005-12-21

Auch in der Kantine bekommt man mit einem freundlichen Mahlzeit und einem netten Lächeln häufig etwas größere Portionen ;-)

Martin Hiegl, 2005-12-21

Hallo,

also bei uns im Ort, in dem sich natürlich fast jeder kennt, ist es durchaus üblich sich morgens mit "Guten Morgen" und abends mit "Guten Abend" zu begrüßen.

In der Stadt geht das Ganze natürlich nicht. Gerade in unserem hektischem Alltag hat (oder nimmt sich) keiner mehr Zeit für so etwas.

Aber gerade die Jugend (darf ich mit 19 schon von Jugend reden?) hat von Anstand oder Höflichkeit leider teilweise keine Ahnung mehr.

Das mit der Kantine und dem Lächeln, kann ich übrigens jeden Tag bestätigen.

In diesem Sinne, Frohe Weihnachten ;-)

Dimitrios Seitz, 2005-12-21

Was ich erschreckend an dieser Entwicklung finde ist, dass wenn man Höflichkeit an den Tag legt, man oft nur belächelt oder gar komisch angeshen wird. Es ist schon so weit, dass teilweise die Menschen mit einer netten Geste eine böse Absicht verbinden.

Auf das wir alle dagegen angehen und den Mut zum "nett sein" nicht verlieren ;-))

Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!

Joerg Laufenberg, 2005-12-22

@Dirk Oppelt - kann ich nur bestätigen.

Wenn ich sehe wie gestreßt die Leute durch die Straßen rennen, dann freue ich mich, daß wir in der Familie die Weihnachtsgeschenke (außer für die Kinder) abgeschafft haben. (zwischendurch etwas finden und sofort verschenken macht mir perönlich mehr spaß)

ich wünsche allen Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch und alles Gute für 2006

Andrea Altefrone, 2005-12-22

Leider braucht es für Höflichkeit nicht nur die ausgesprochenen Floskeln: ich kann jedenfalls prima auf ein "gern geschehen", wenn derjenige dann flucht und lästert, sobald ich ihm den Rücken zudrehe.
Ansonsten kann ich allerdings zustimmen.

Laura Ohrndorf, 2005-12-22

Ein schönes Thema. Grundsätzlich bedaure ich, dass häufig -nicht unbedingt hier- die Höflichkeit (und deren Steigerung: die Freundlichkeit) als zusätzlicher Aufwand dargestellt wird, den nur noch wenige auf sich nehmen.

Ich finde durch einen freundlichen Umgang vereinfacht sich das Leben ungemein. Jeder wird gerne freundlich behandelt (solange es nicht aufgesetzt wirkt, ein Fehler vieler Verkäufer), hört seinen Namen gerne und wir gerne ernst genommen.

Der Vorteil: Der Gegenüber bemüht sich in der Regel stärker um meine Belange (bspw. wird das Büro besser geputzt, die Empfehlungen im Restaurant werden ehrlicher, der Mitarbeiter an der Hotline bemüht sich stärker) und man selbst hat ein besseres Gefühl wenn einem -in der Regel- mit der gleichen Freundlichkeit begegnet wird.

Und es hat einen weitere Vorteil: Wer ohnehin ständig mit unfreundlich mit seiner Umgebung umgeht, der muß sich bei wirklichem Ärger schon mächtig anstrengen dies zu zeigen: Er muß schreien oder Gegenstände durch die Gegend werfen, ansonsten fällt seine Mißgunst ja kaum noch auf. Wer stehts höflich oder gar freundlich mit seinen Mitmenschen umgeht, der muß nicht einmal laut werden um zu zeigen, wo er die Grenzen setzt.

Vielleicht sollte man manchen Menschen einfach nur erklären, dass sie sich durch "Stoffeligkeit" das Leben unnötig erschweren.

Markus Thielmann, 2005-12-22

Ich kenn' einen Fall, da hat eine Firma einen (sehr lukrativen) Auftrag nicht bekommen, weil die Jung-Yuppies beim Arbeitsessen nicht kurz den Hintern lupften bzw. nichtmal richtig begrüßten, als die Sekretärin sich mit an den Tisch setzte - die "Tippse" erschien denen offensichtlich nicht ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Der Auftraggeber befand daraufhin diese Leute ohne "Kinderstube" (imo zu Recht) für nicht würdig, Dienstleistungen für seine Firma auszuführen.

Sven Scholz, 2005-12-28

Ein wunderschöner kleiner Artikel. Wo ich in Deutschland aufgewachsen bin (Kleinstadt im Süden) hat man eigentlich immer gegrüßt, und im Betrieb auch jedem Passanten Mahlzeit gewünscht - und natürlich auch die Privatangelegenheiten aller Nachbarn bis ins kleinste Detail erörtert!

Diese Höflichkeit mag in Deutschland in den letzten paar Jahren zurückgegangen sein (die Umgangsformen bei Big-Brother geben wohl den in der Öffentlichkeit akzeptablen Ton an), doch ist die Situation bei weitem noch nicht so extrem wie in England.
Dort wohne ich nun seit fast 10 Jahren. Vor einigen Wochen saß ein junger Mann im Bus, den ich regelmäßig nehme, und hat laut Zeitungsbericht einige Jugendliche sehr vorsichtig gebeten, sie möchten doch seine Freundin nicht mit Pommes bewerfen - er wurde erstochen, und der Täter stieg an der nächsten Haltestelle vom Bus, als sei nichts passiert.
Das schlimmste an der ganzen Sache war eigentlich nicht so sehr die Tat (sowas ähnliches ist woanders bestimmt auch passiert), sondern daß die anderen Passagiere - um 20.30 war der Bus noch fast voll - überhaupt nicht eingeschritten sind. Soweit ich weiß hat die Polizei keine Spur vom Täter gefunden.

Freya Köpping, 2006-01-16

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