Grüne Vernunft, rote Irrlehren

by Volker Weber

Wir unterbrechen das Programm für einen bemerkenswerten Gastkommentar von Christoph Keese, Chefredakteur der "Financial Times Deutschland" auf SPIEGEL Online:

Die Grünen sind nicht nur eine Ökopax-Partei, sondern auch eine Partei der ökonomischen Vernunft. Seit Beginn der Friedens- und Umweltbewegung haben Grüne Firmen gegründet, um Alternativen am praktischen Beispiel vorzuleben. Diese Betriebe mussten meist ohne Subventionen auskommen. Wenn sie nicht scharf kalkulierten, gingen sie unter. In dieser Gründerkultur haben die Grünen ihre Wurzeln. Sie wissen: Geld, das man nicht verdient, kann man nicht ausgeben. ... Die Grünen haben das verstanden, werfen alte Konzepte über Bord und riskieren einen Konflikt mit Interessengruppen.

Ganz anders die SPD. Wenn Sozialdemokraten eine Reform angehen, berufen sie gerne Experten wie den Wirtschaftsprofessor Bert Rürup und übertragen ihm ein komplexes Problem - wie die Sanierung des Renten- und Gesundheitssystems. Der Experte referiert dann den Stand der Wissenschaft, und die Sozialdemokraten prüfen, ob das zu ihrem Dogma passt. Falls nicht, schneiden sie ihm das Wort ab und verordnen Denkverbote.

Genau das musste Rürup vergangene Woche erleben. Er trug die ökonomische Binsenweisheit vor, dass die Rente nur zu retten ist, wenn künftig alle länger arbeiten und die heutigen Pensionäre etwas Verzicht üben. Prompt bezweifelten führende Mitglieder der SPD-Fraktion Rürups Eignung als Chef der Reformkommission. Traditionelle Sozialdemokraten haben ein Problem mit der empirischen Wissenschaft. Oftmals bestreiten sie das Ergebnis der Forschung und pochen auf ihr Dogma.

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Passend dazu ein Interview mit Prof. Dr. Bert Rürup im Darmstädter Echo:

Rürup: Was wir zurzeit erleben, ist fiskalischer Aktionismus. Das wäre noch vertretbar, wenn man eine Perspektive erkennen und den Eindruck haben könnte, die einzelnen Maßnahmen wären Teil eines Masterplans. Doch es wird wahllos irgendetwas gemacht, und man weiß nicht, was folgt. Das erzeugt Misstrauen und lässt Investitions- und Konsumverweigerung aufkommen. Das zarte Pflänzchen Aufschwung wird durch diese Politik mit Sicherheit nicht gestärkt.

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Comments

Wenn's nicht gerade unsere aktuelle Regierungspartei wäre, könnte man darüber sogar schmunzeln. Naja, Zähne zusammen beissen und durchhalten. Im Sommer dachte ich noch "schlimmer kann's nicht mehr werden", werde aber derzeit ständig eines Besseren belehrt.

Stefan Rubner, 2002-11-18

Die derzeitige fiskalische Desorientierung unserer Regierung wird auf einem für den Steuerzahler teureren Weg letztendlich zum selben Ergebnis führen: Abbau von Staatsapparat auf Druck aus Brüssel. Mehr als aufgewogen wird dieses unglückliche innenpolitische Vorgehen aus meiner Sicht allerdings durch ein umso klügeres Vorgehen in der Aussenpolitik, wo mir jede Sabine Christiansen-Show verdeutlicht, dass unsere Regierung ausgesprochene "Leadership Ability" besitzt, indem sie sich nach wie vor konsequent gegen die Veranstaltung weiterer sinnloser Detonationsorgien in der islamischen Welt ausspricht. Ich denke, dass diese Haltung in der gegebenen weltpolitischen Lage kaum überschätzt werden kann.

Volker Lenz, 2002-11-18

Aussenpolitik??
Von Aussenpolitik kann derzeit noch keine Rede sein. Zunächst wird mit eine antiamerikanischen Haltung Wahlkampf getrieben und nun darf sich der hochgelobte Aussenminister um das Flicken der Löcher bemühen. Dass die Löcher wiederum mit dem Einsatz Bundeswehrsoldaten geflickt werden mag ich nur schwerlich als Glanzleistung erkennen.

Das Lob mit dem der Aussenminister überschüttet wird, rührt vermutlich aus den eher geringen Erwartungen, die an einen grünen Aussenminister gestellt worden sind.

Markus Nolte, 2002-11-18

Ich weiss nicht, ob es mir wirklich gefallen soll, dass "aussenpolitische Erfolge" (die im übrigen auch ich nicht en masse erkennen kann) von den innenpolitischen Mißständen ablenken müssen. Diese - aus den USA nicht wirklich unbekannte - Taktik löst weder die inneren Probleme, noch ist sie - wie am Beispiel USA ebenfalls zu sehen ist - ohne Risiken.

Stefan Rubner, 2002-11-18

Das ist wahr. Trennen wir die Dinge wieder und werfen einen Blick aufs innenpolitische Szenario:
In erster Linie sehe ich hier Nullwachstum mit Deflationstendenz und entsprechend unerfreuliche Verteilungskämpfe. So wird es, wenn die Experten für makroökonomische Prognose sich nicht irren, mindestens auch noch in 2003 weitergehen und das beileibe nicht nur hierzulande. Wie kommt man aus diesem Szenario wieder heraus? Sicher mit vernünftigen flankierenden Maßnahmen der Wirtschafts-, Fiskal- und Bildungspolitik, die unsere Regierung noch vorzulegen hat. Aber wenn wir die Frage stellen, wem die Misere anzuhängen sei und wer deshalb jetzt den Sparhammer am stärksten über die Rübe bekommen sollte, ist mir der zornige Blick zu den Lobbyisten rund ums Berliner Regierungsviertel einfach zu banal, auch wenn der Reformstau im deutschen Verwaltungs- und Sozialversicherungswesen zweifellos ein grosses Thema ist und bleibt.
Als Antizykliker sehe ich es so: In dieser Krise braucht man in Deutschland wie ehedem vor allem die Erzeugung schwer reproduzierbarer Güter und Dienstleistungen, die zu hohen Preisen am Weltmarkt plaziert werden können. Ich sehe nun aber viel Business Marke "old fashioned", das einfach nur billiger gemacht werden soll. Nun werden allerdings Portugal und China stets "billiger können" als wir, mögen wir unsere Geschäftsprozesse auch verschlanken bis zum Abwinken.
Die deutsche Gesellschaft hat sich m.E. seit Anfang 1998 quer durch alle Schichten und Entscheiderebenen zunehmend Haltungen genehmigt, die unsere Position an den Weltmärkten massiv geschwächt haben, u.a.
Kasino-Mentalität am neuen Markt bis Mitte 2000, krasse Überbewertung der Finanzwirtschaft sowie der Medienbranche ohne nenneswerten realwirtschaftlichen Output, aus Preussag wurde TUI, mit einem Wort: Möglichst viel Unterhaltung und dazu noch der schnelle Euro. Da mag einer sagen, was er will: Das war "Absturz mit Ansage" und ich behaupte (blame me for that): Wir wussten es auch.
Jetzt ist die Party durch, die Gläser werden mit lautem Klappern abgetragen, jeder greift besorgt nach seiner Brieftasche und sucht den Hinterausgang, um die Zeche zu prellen. Man erinnert sich plötzlich mit Grausen wieder daran, dass unsere blühenden Landschaften im Osten immer noch gutes Geld kosten, dass unser einst exzellentes öffentliches Bildungswesen unter allgemeinem gesellschaftlichen Desinteresse endlich platt gegangen ist, die Kids aber leider keine Ruhe mehr geben, wenn wir Ihnen keine XBox mehr untern Christbaum legen können, dass die USA und Japan uns in allen "Bleeding Edge Technologies" meilenweit abgehängt haben und unser Binnenmarkt die vielen Unterhaltungsdienstleister nicht mehr tragen kann, weil unsere exportwirtschaftlich wichtigen Blue Chips aus mangelnder Innovationskraft straucheln.
Das Ganze in Verbindung mit unserer hohen Bevölkerungsdichte ist natürlich ein enormer Sprengsatz und darum möchte ich auch gegen den aktuellen Trend weiterhin darauf verzichten, diesen Sprengsatz überzogen zu politisieren. Der Kanzler kann unseren CEO's und COO's keine Ideen einhauchen und das wird auch die Oppositionsführung nicht schaffen. An wen wird sich dann aber der von ihr so kunstvoll geschürte Volkszorn halten?
Der von der Opposition vielzitierte "Mittelstand als Arbeitgeber" wird die erforderliche Breitenversorgung mit Arbeit und Einkommen jedenfalls auch nicht bringen. Wir brauchen schlicht und ergreifend wie eh und je massive Handelsbilanzüberschüsse, um dieses Land tragfähig zu bewirtschaften. Diese Überschüsse kommen, wie ich nicht zuletzt auch für mich als Portal-Consultant hoffe, kurzfristig aus internationaler Vernetzung über breitbandigen Mobile Commerce mit UMTS oder anderer Breitbandtechnik. Sie kommen wohl auch aus der Energietechnik und der Brennstoffzelle. Biotechnik zur Erzeugung billiger erneuerbarer Ressourcen für die Bauwirtschaft sehe ich als mittelfristiges Wachstumsfeld, das auch die Frittenbude am Binnenmarkt wieder anheizen wird. Wie auch immer: Ich würde mich durchaus nicht ärgern, wenn der Kanzler wie einst der amerikanische Präsident Mitte der Neunziger seinem hadernden Volke in diesen Tagen mal deutlich sagte: "Stop crying and get back to your business." Stattdessen erleben wir für meinen Geschmack nur einen Haufen phantasieloser Medienpolemik (wer von euch hat die letzten 3 Christiansen-Shows gesehen und sich nicht an den Kopf gegriffen?. Dazu gibts Politburlesken und Schwarzreden von einer Sorte, wie sie bestimmt geeignet sind, unsere Ökonomie erst richtig in den Orkus zu treiben, aus dem wir gern raus möchten und die Opposition mischt im Komödienstadel der Hilflosigkeiten allerdings kräftig mit, indem sie sich mit der Bestellung parlamentarischer Sonderausschüsse zur Aufdeckung von Wahlbetrug abstrampelt und Steuerzahlers Geld mit juristischen Nachbetrachtungen durch den Kamin zu jagen gedenkt. Hätten die Herren Stoiber und Westerwelle vor der Wahl die Gelegenheit wahrgenommen, ihren vermeintlichen Reichtum an Ideen zur Krisenbewältigung so auszubreiten, dass darin mehr Aspirin gegen unsere sich doch schon lange abzeichnende kollektive Katerstimmung zu erkennen gewesen wäre, hätten sie bestimmt die 55% Stimmen geholt, um derentwillen sie heute ihr juristisches Gekartele anfangen.
Nu ja, so isser eben auch, der Deutsche, wie Hölderlin sagte: " ... reich an Gedanken, an Taten arm."

Volker Lenz, 2002-11-19

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