Was ist schon ein Notfall?

by Ragnar Schierholz

Wenn man dem dem Bericht des ARD Magazins Monitor Glauben schenkt, dann sind die streikenden Ärzte gerade dabei, sich alle verbliebene Sympathie zu verspielen.

Nach der offiziellen Vereinbarung werden nur noch dringende Notfälle behandelt, insbesondere im Operationssaal. Nach Angaben von Monitor wird je nach Art der Versicherungen die Interpretation des Begriffs "Notfall" sehr flexibel gehandhabt, was dann dazu führt, dass selbst Schönheitsoperationen zu Notfällen werden. Wenn denn der zu behandelnde Patient privat versichert ist und dementsprechend gut zahlt.

Man muss den Bericht mit Sicherheit mit einer gewissen Vorsicht geniessen. Insbesondere die genannten Prozentzahlen klingen sehr nach relativen Prozenten. D.h. wenn dort geschrieben wird, dass der Anteil der Privatpatienten um 50% gestiegen ist, dann muss das nicht heissen, dass dieser bspw. von 10% auf 60% gestiegen ist (das wären absolute Prozent). Vielmehr heisst das häufig, dass er von z.B. 10% auf 15% gestiegen ist (das sind dann relative Prozent). In letzterem Fall ist das dann schon hart an der Grenze zur statistischen Signifikanz.

Aber trotz alledem, liebe Ärzte, wenn Monitor richtig liegt, dann könnt Ihr Euch auf ziemlichen Gegenwind aus der Bevölkerung gefasst machen.

[Update: Offenbar wird der Streik in der nächsten Woche ausgesetzt (so Spiegel Online), um den Rückstau an Operationen abzubauen.]

Comments

Vorweg sorry für die scheinbare(?) Kleinkariertheit: Prozentangaben sind per definitionem doch immer relativ (vgl. den Ausdruck "vom Hundert"). Für den Zusammenhang, den Du beschrieben hast, gibt es die Begriffe "Prozentpunkte" (hört man ja häufig bei Wahlergebnissen) und "Basispunkte" (hört man z.B., wenn Mr Bernanke den Leitzins verändert). "Absolute Prozent" ist zumindest ein Widerspruch in sich.

Manchmal fällt einem auf, wie deutsch man selbst eigentlich ist.

Martin Switaiski, 2006-05-18

(Auf diese etwas irreführende Prozentsache gehe ich mal nicht ein.)

Ist es nicht möglicherweise so, dass die Klinken ihre OPs auch vermieten? Man geht zu seinem freiberuflich tätigen (kein Angestelltenverhältnis, warum streiken?) Arzt und lässt sich einen OP-Termin machen. Die OP wird dann im Krankenhaus durchgeführt, bezahlt wird an den Arzt. Die Krankenhausverwaltung wäre doch dumm das abzulehnen. Wahrscheinlich wird so ein OP aber (könnte ich mir vorstellen) mit Personal vermietet, bliebe die Frage, wo das während des Streiks rekrutiert wird.

Marc Petermax, 2006-05-19

@Martin: So ähnlich hab' ich auch reagiert, als ich den Ausdruck "absolute Prozente" das erste Mal gehört habe. Das war in einem Artikel in der Zeit, der sich ebenfalls mit dem Pharma/Medizin-Thema beschäftigt. Kürzlich habe ich einen Workshop mit einem Pharmahersteller gehabt, da fielen diese Begriffe ebenfalls, daher gehe ich davon aus, dass das branchenübliche Terminologie ist. "Prozentpunkte" und "Basispunkte" sind für mich keine äquivalenten Ausdrücke. Bei Wahlen spricht man von "Prozentpunkten", das ist m.E. einfach ein Synonym zu "Prozent" und dort spricht man wirklich von Veränderungen in "absoluten Prozenten" (Bsp: "die Partei x hat 5% zugelegt" heisst dann wirklich, dass ihr Stimmanteil bspw. von 12% auf 17% gewachsen ist). Wenn der Leitzins um 25 Basispunkte erhöht wird, heisst das m.W., dass er bspw. von 2.25% auf 2.5% erhöht wird. Das ist also ebenfalls "absolut" i.o.S. zu verstehen, nur eben als Hundertstel-Prozent.
Der Unterschied zwischen absoluten und relativen Prozent wird eben gerade in der Pharma-/Medizin-Branche bei klinischen Studien oft verwendet. Ein Beispiel aus einer Studie: "Die Reduktion der Sterblichkeitsrate an Brustkrebs wird durch Mammographie um 25% gesenkt." Was genau hat man da gezählt: 2'000 Frauen haben an einer Langzeitstudie teilgenommen. 1'000 haben regelmässig Brustkrebsvorsorge-Untersuchungen (Mammographie) machen lassen, die anderen 1'000 nicht. Von den 1'000 Frauen ohne Mammographie sind nach x Jahren 4 an Brustkrebs gestorben, von den 1'000 Frauen mit Mammographie nur 3. Die Quoten sind also 0,4% bzw. 0,3%. Von 0,4 zu 0,3 ist das eine Reduktion von 25% (relativ) bzw. 0,1% (absolut). Im Klartext heisst das aber in jedem Fall: Mammographie kann einer von 1'000 Frauen helfen, nicht an Brustkrebs zu sterben.
Welche Zahl ein Pharmakonzern in seiner Studie lieber veröffentlicht, brauche ich wohl nicht weiter zu erläutern.

@Marc: Klar, das kann sein. Die Aussagen der Klinikleiter in dem Online-Artikel lassen aber vermuten, dass das hier nicht der Fall war. Wäre dem so, warum sollten sie dann anfangen, zu erklären, dass auch eine gerichtete Nase ein Notfall sein kann? Dann wäre es doch einfacher und wesentliche weniger konflikt-trächtig, wenn sie erklären, dass die OP's an nicht-streikende Ärzte vermietet wurden.

Ragnar Schierholz, 2006-05-19

@Ragnar: okay, ich kann nachvollziehen, dass man die Begriffe "Prozentpunkte" und wohl erst recht "Basispunkte" im medizinischen Bereich vermeiden will, weil sie eben anders besetzt sind:-) Einen Pharmahersteller wird es wohl auch kaum interessieren, ob das was er schreibt wissenschaftlichen Maßstäben standhält. Hauptsache, es hört sich wissenschaftlich an.

BTW: Mir hat früher mal ein Statistik-Dozent an der Uni erzählt, dass er regelmäßig von den benachbarten Medizinern angesprochen wurde. Er sollte doch bitte um jeden Preis "irgendeine" Signifikanz aus ihren Daten rausholen...

Martin Switaiski, 2006-05-19

@Martin: Genau darum ging es in dem angesprochenen Zeitartikel. Die Missstände im deutschen Gesundheitssystem, die Glaubwürdigkeit und Selbstkontrolle der Pharmaindustrie, etc. pp.

Ragnar Schierholz, 2006-05-19

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