Stromzähler – Ein UX Schauermärchen

Stromzähler mit aktueller Leistungsabnahme

Ich erinnere mich mit Schaudern an ein Projekt aus den 80er-Jahren, das eine museumsreife Telefonanlage mit Hubdrehwählern durch eine (damals) moderne Anlage mit Komfortmerkmalen ersetzen sollte. Statt mehrerer Räume voll Elektromechanik ein kühlschrankgroßes Computergehäuse. Eigentlich ganz einfach, wenn da nicht der Personalrat gewesen wäre. “Rückruf bei besetzt”? Geht nicht, weil man damit den Mitarbeiter überwachen könnte. “Anruf in Abwesenheit”? Geht auch nicht, selbe Begründung. Heute würde man sagen “Datenschutz”.

Wir hatten einen erfahrenen Projektleiter, der stoisch alle Bedenken einsammelte und protokollierte. Dann wurde die Anlage so weit verdummt, bis alle Bedenken ausgeräumt waren. Und dann wurde umgestellt.

Nun musste sich jeder einzelne Mitarbeiter seine Komfortmerkmale durch umständliche Konfigurationsmenüs wieder aktivieren. Technische Hilfskräfte unterstützten die Älteren.

Vierzig Jahre später gehöre ich nun zu den Älteren.

Letztes Jahr haben wir zwei “moderne Messeinheiten” statt unserer mechanischen Zähler für Haushaltsstrom und Wärmepumpe bekommen. (Nebenbemerkung: Wärmepumpen sind super, egal was Euch die Wahrer der guten alten Heizkessel erzählen.) Diese modernen Messeinheiten können genau das, was die mechanischen konnten. Man sieht lediglich den aufgelaufenen Verbrauch in kWh. Alle Komfortmerkmale sind abgeschaltet und verschlossen. Ihr ahnt es: Schützenswerte Daten.

Und jetzt schaut mal in die Bedienungsanleitung mit dem schönen Namen mMe4.0_BIA-D-1.20.pdf . Man kann diese Daten freischalten, wenigstens für 120 Sekunden, und dazu braucht man eine PIN. Die hat man uns aber nicht ausgehändigt, genau wie die in Fachchinesisch gehaltene Bedienungsanleitung.

Wie kommt man nun an diese PIN? Man registriert sich im Portal des Netzbetreibers (Email und Passwort, dessen Regeln Stück für Stück nachgeschoben werden: “mindestens eine Zahl” etc.) Dann klickt man auf den Link in der Bestätigungsmail, registriert seine Zähler anhand der aufgedruckten Seriennummern, und dann wartet man, bis die Post ein paar Tage später einen Brief mit Freischaltcodes liefert. Nicht mit den PINs!

Zurück im Portal schaltet man nun die Zähler frei und kann dort die PINs einsehen. Hurra. Hurra? Nein, die moderne Messeinheit hat gar keine Tastatur, keine USB-Schnittstelle, keine App, kein WLAN, kein Bluetooth, kein Ethernet. Nur eine Photodiode, die man mit einer Taschenlampe anleuchtet.

Und dort morst man sich dann durch das Menü. Erste Hürde: Die PIN. Ohne genaue Erklärung haben wir fünf Anläufe gebraucht. Und ich verrate Euch was. Ganz am Ende des Menüs könnt ihr die PIN-Abfrage abschalten. Das gilt bis zum Neustart des Zählers wegen Stromunterbrechung. Dann dürft ihr das alles nochmal machen.

Nun können wir also den aktuellen Stromverbrauch sehen und mal schauen, was der Wäschetrockner so braucht, wenn man ihn einschaltet. Das sollten wir aber nicht sehen, denn das sind “schützenswerte Daten”.

Deutschland hat wirklich einen an der Waffel.

28 thoughts on “Stromzähler – Ein UX Schauermärchen”

  1. Sind schon Kommentare eingetrudelt so a la „Ihr werdet es schon sehen und euch bei uns bedanken fūr den Datenschutz, wenn [insert fictional horror scenario] passiert”?

    1. Bisher nicht. Aber im von Jan verlinkten Film spricht der Offizielle davon, dass sich nur 3 Prozent der Nutzer für diese Daten interessieren. Ich vermute, das sind die 3 Prozent, die das bürokratische Hintertürchen entdeckt haben, durch die man in den Besitz der PIN kommt.

      1. Es gibt ja einen hochsicher und BSI verdongelten fernauslesbaren Zähler – die sogenannte intelligente Messeinrichtung. Der Grund warum wir die von Dir beschriebenen MMEs bekommen ist simpel: die Netzbetreiber hatten bis vor kurzem kein wirkliches Interesse an den Daten der 08/15 Verbraucher – ein paar Kilo Kupfer mehr im Boden taten es auch wenn irgendwo zuviel Last drohte. Und getrieben von der Preisanreizspirale werden die Kosten gedrückt – da kein business case da ist werden halt die billigsten Geräte ausgerollt.
        Ich bin gespannt ob Herr Habeck diesen Trend wirklich umkehren wird.

  2. Danke Volker für diesen Artikel. Wie oft hab ich mich schon gefragt, warum unser Zähler getauscht wurde und warum der neue Digital Zähler so gar nix kann. Er kann also, aber er soll nicht. Völlig bekloppt! Wer steckt dahinter und ist für diese Entscheidungen verantwortlich? Es wäre so hilfreich, mal den “Ruhe-Stromverbrauch” des Hauses auslesen zu können…

  3. Vor ungefähr sechs Wochen haben wir bei uns auch so ein Ding bekommen, anderes Modell – gleiches (nicht-)Bedienprinzip. Die Vorfreude hat sich sehr schnell gelegt, ich habe bisher noch nicht die Taschenlampe bemüht. Denn wenn ich das richtig verstehe, muss ich bei unserem jedesmal umschalten, wenn ich was anderes als den aggregierten Verbrauch sehen will. Der schaltet glaube ich nach einigen Minuten wieder zurück. Aber ausprobiert habe ich das noch nicht…

    1. Und noch verrückter, nach sechs Wochen habe ich dann endlich am Donnerstag die Zugangsdaten für das Kundenportal des Messtellenbetreibers bekommen. Das zeigt aber bis heute 0Wh Verbrauch an, egal was ich wähle (Tag, Woche, Monat)… „Für diesen Zeitraum sind keine Daten vorhanden“.

      1. Wie ich oben dargestellt habe, kann der Messstellenbetreiber ja die Daten des Zählers nicht auslesen. Das Gerät ist nur per Licht ansprechbar. Die musst du da schon selbst persönlich eingeben.

          1. Ja, so ein SMGW haben wir hier auch. Und inzwischen, nachdem ich das in einer E-Mail an den Support gemeldet habe, hat auch jemand mal ferngewirkt und ich sehe jetzt die richtigen Messwerte online – alle Viertelstunde den Zählerstand.

            Die PIN habe ich in der E-Mail auch erbeten, aber die Zugangsdaten zum SMGW erhalten. Da muss man sich mit einem Ethernet-Kabel anklemmen und per fixer IP Adresse eine Verbindung aufbauen. Das PTB hat eine Software, die sich TruDi schimpft und mit der man das SMGW auslesen kann. Man soll damit sogar die Abrechnung des Lieferanten transparent prüfen können. Bei der Übertragungsgeschwindigkeit des SMGW fürchte ich jedoch, dass die Übertragung der Daten länger dauert als der Abrechnungszeitraum… Das ist zwar Ethernet, aber die Box hat wohl nicht genug Bumms, um da auch mit entsprechender Geschwindigkeit Daten zu liefern.

    2. Wenn du am Ende des Menüs die PIN-Eingabe abschaltest, musst du es nicht. Dann springt der Zähler in den oben abgebildeten Zustand. Steht aber auch nirgendwo verständlich.

  4. Das ist (zum Glück?) nicht bei jedem Netzbetreiber so. Leider kann man sich den nicht aussuchen. Bei unserem ist keine PIN notwendig. Zum Glück haben wir mehrere tausend Netzbetreiber in Deutschland die alle ihr eigene Suppe kochen. Und zwar in Allem was das Netz betrifft.

    Die Ladesäulenanbieter haben mit unterschiedlichen Anforderungen und Bürokratie zu kämpfen. Der Wallbox-Betreiber ebenso, da möchte z.b. ein Netzbetreiber alle Wallboxen zentral fernsteuern können und damit ist die Auswahl und der Preis der Wallboxen gleich mal ne andere Hausnummer. Einfach mal so.

    Mit dem SMGW (Smart Meter Gateway) wird das auch noch lustiger. Wenn man sich da die Anforderungen des BSI mal anschaut, wird einem echt anders.

    Wie in allem: Wir sind in Deutschland ja die Ersten die solche Geräte einführen. Nicht. Und ein einigermaßen einheitlicher Markt ist das auch nicht. Den Kunden freut es. Nicht.

  5. In Norwegen haben sich diverse Kollegen regelmäßig darüber unterhalten, wie sie ihren Stromverbrauch und (dort wohl weiter verbreitet) variablen Strompreis per Handy angucken.

    Hat mich dort wie hier nie so genau interessiert, aber den Schilderungen hier nach, ist das wohl hier auch eher ein Traum.

    Hier die Beschreibung bei einem norwegischen Betreiber, wie man dort sowas aktiviert. Ist auf Norwegisch, aber gut automatisch übersetzbar: https://www.elvia.no/smart-forbruk/alt-om-din-strommaler/dette-er-han-porten/

    1. Ist da gängig, gerade weil Preise dort auch sehr dynamisch sind. Machen meine Kollegen da praktisch alle, weil ja auch deren Hytten neben der Hauptwohnung/Haus überwiegend elektrisch beheizt werden.

  6. WestfalenWeserNetz hat bei uns auch getauscht, und ungefragt(!) wenige Tage später die PIN per Brief zugestellt. Schon mal besser, als das geschilderte, der Traum von Bedienung via morsen (ich hab übrigens eine konstante Lichtquelle+Bankkarte als Schattenspender verwendet) ist allerdings auch hier so. Immerhin kann man den Zähler so überreden über die optische Schnittstelle Bezug/Lieferung mit Nachkommastellen auszugeben, mehr kommt da aber auch nicht raus. Immerhin ist so das Auslesen einfacher (entspr. Leseköpfe gibts bei eBay, Anleitungen z.B. für RasPi oder ESPs im Netz). Hab die Vermutung dass der Kunde nicht haben soll, was auch der Betreiber (noch) nicht hat: Detaillierte Daten. Die bekommt der Betreiber (bei unserem Modell) erst mit dem SmartMeterGateway.

    1. Nein der Betreiber bekommt sie eben NICHT. Es sei denn er weist nach, dass er ein berechtigtes Interesse hat. Wird er als Netzbetreiber bzw. Messtellenbetreiber nicht nachweisen können bzw. wenn dann bekommt er nur eingeschränkten Zugriff auf die anonymisierten Daten.
      Das ist nur ein Beispiel für einen imSys Prozess. Es gibt etliche davon … Tarifanwendungsfälle, TAF1 – TAFxx werden die genannt. Manche sind so komplex wegen der notwendigen (vom BSI vorgeschriebenen) Verschlüsselung und Anonymisierung, dass sich noch kein Hersteller an die Realisierung gewagt hat …

      1. Richtig, der Betreiber bekommt sie nicht (wie ich auch schrieb). Und was er nicht hat, sollst du schon lange nicht haben!

  7. Kommt mir bekannt vor. Ich habe jetzt gerade so einen Zähler bekommen weil ich im Garten ein Balkonkraftwerk aufgestellt habe.

    Immerhin war der Techniker so nett mir zu sagen, dass ich diese PIN anfordern kann. Selber gleich mitbringen wär ja auch doof 😉 Und er hat mir eine recht gute Anleitung mit schönen Screenshots dagelassen.

    Aber ehrlich gesagt ist mir dass zu aufwendig (Nicht nur wegen PIN, auch wegen jedesmal in den Keller zum Technikraum zu laufen). Ich werd wohl an die wichtigsten Verbraucher Eve Steckdosen hängen (da wo ich via Siri fernsteuere habe ich eh schon welche).

    Kostet zwar etwas mehr, ist aber komfortabler. Und ja, dann lese ich halt nicht alles aus – aber es geht ja um die großen Brocken wie z.B. Waschmaschine, Trockner Fernseher und Bürostrom.

  8. Anekdotische Evidenz für #allebekloppt:

    Um unsere “moderne Messeinheit” abzulesen muss, weil das Teil im Jahre 2023 halt nicht modern genug ist um einen Counter online abzuliefern, immer ein Mensch in unseren Keller stiefeln und, jetzt wird’s modern, mit einer App ein Foto des Zählerstands machen.

    Allerdings aktiviert die App zwingend und nicht durch User abschaltbar die LED-Leuchte des Telefons, denn Keller sind ja bekannterweise stets zappenduster, wie soll man da auch Licht machen, hinterher sogar elektrisch, wo kämen wir da hin? Das erzwungene Leuchten des Telefons wird sodann durch die “moderne Messeinheit” voller Freude als Aufforderung zur Morse-Blink-Kommunikation begriffen und der zu fotografierende Zählerstand umgehend ausblendet.

    Also steht dieser arme Mensch nun immer mit orthopädisch bedenklicher Fingerhaltung hier, um sowohl den Auslöser zu bedienen, als auch die Lampe abzudecken. Warum benutzt er hier nicht seine zweite Hand? Weil er mit dieser sein Klemmbrett hält. Klemmbrett?

    Im Anschluss wird der Inhalt des Fotos natürlich “zur Sicherheit” auf Papier mit dem Gänsekie, ähh, Kugelschreiber notiert.

    Schickt bitte Riechsalz, es wird langsam knapp…

  9. Es gibt diverse Bastelanleitungen und kommerzialisierte Projekte, um eine “optische Leseeinheit” samt Funkmodul nachzurüsten, und dann tatsächlich ein smart Meter zu haben. Völlig irre. Bei mir ist leider der Weg zu weit und mit zu viel Stahlbeton, um es tatsächlich umzusetzen.

    1. Ah, und es gibt Apps, um die Blitz-LED automatisiert anzusteuern…

  10. Hab das jetzt auch mal probiert.
    Name, Adresse, Emailadresse, Zählernummer in ein Formular eingetragen und abgeschickt.
    Am nächsten Tag kam eine Email vom “Werkstudenten” mit der Pin.
    Dank Pupillenleuchte hat die Eingabe der Pin beim ersten Mal funktioniert – diese habe ich dann sofort deaktiviert.
    Der Zähler hat auch eine Infrarotschnittstelle – die Frage ist nur, wie man in einem Mehrfamilienhaus vom Stromzähler im Keller zum Computer in der Wohnung eine Verbindung herstellen kann.

    Ohne Pin und mit einem einfachen Taster zum Durchblättern der Werte könnte wirklich jeder so ein Teil bedienen.

  11. Danke für die ausführliche Erklärung. Dann werde ich auf den Zähler verzichten und in paar neue, schaltbare Mehrfachsteckdosen investieren.

    1. Den Zähler bekommst Du, spätestens wenn die Eichfrist des Ferraris Zählers (aka Drehscheibenzähler) abgelaufen ist, vom Netzbetreiber installiert. Da hast Du keine Wahlmöglichkeit.

  12. Ich hab seit 10 Jahren so einen kleinen Adapter vor den Zähler geklebt, der die Drehscheibe mit einer LED beleuchtet und die Umdrehungen zählt, in Stromverbrauch umrechnet und über einen kleinen Webserver (ohne Kennwort, Port 80) veröffentlicht. Leider mit Punkt statt Komma… den habe ich in die wechselnden Home Automation Systeme immer leicht integriert. Als nun letztes jahr der neue Dumme Zähler kam, musste ich nur die LED ausschalten und auf Blitzzählung umschalten (Blitze oder impulse ist DER Standard für Strom, Gas, Wasser usw – nur nicht Menschenkompatibel – neuer Kleber drauf und fertig.

  13. Ich kann nur bestätigen, was sie schreiben, Volker. – PIN zu bekommen war kompliziert. Anleitung falsch, ließ sich aber beheben.

    Die moderne Messeinrichtung wird nützlich, wenn man sich ein Interface für die optische Schnittstelle besorgt. Wir haben den Tibber Pulse günstig bekommen und damit Echtzeit-Verbräuche auf dem Telefon.

  14. Soweit ich mich erinnere kam hier (NetzeBW) der Brief mit der PIN automatisch nach dem Zählerwechsel und unser Zähler hat zusätzlich zum IR-Empfänger sogar einen mechanischen Taster. Seit Januar hängt auf der Schnittstelle ein Tibber Pulse und ich freue mich bisher über durchschnittliche kWh-Preise zwischen 27 und 30 Cent. Liegt aber sicher auch daran, dass z.B. das Laden vom Auto automatisch in den günstigeren Stunden passiert.

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